Das Konzept der „biogeografischen Herkunft“ (bgH) sorgt im wissenschaftlichen Diskurs derzeit für Kontroversen und ist wissenschaftlich noch nicht abschließend definiert. Auch in den genetischen Subdisziplinen, die mit dem Konzept arbeiten, gibt es keine einheitliche Definition; zwei unterschiedliche Definitionen finden Sie am Ende dieses Textes.

  • „Biogeografische Herkunft“ dient zwar als Annäherung an die „Ethnie“ eines Menschen, ist aber nicht dasselbe wie „Ethnie“. Man kann mit DNA-Analysen nicht die „Ethnie“ eines Menschen diagnostizieren.
    [Der sozialwissenschaftliche Begriff „Ethnie“ bezeichnet eine abgrenzbare soziale Gruppe, der aufgrund ihres intuitiven Selbstverständnisses und Gemeinschaftsgefühls eine Gruppenidentität zuerkannt wird. Grundlage dieser Ethnizität können gemeinsame Eigenbezeichnung, Sprache, Abstammung, Wirtschaftsordnung, Geschichte, Kultur, Religion oder Verbindung zu einem bestimmten Gebiet sein. Eine Ethnie muss keine gemeinsame Abstammungsgruppe sein (familienübergreifend), die Zugehörigkeit vererbt sich weiter (familienumfassend) und es muss keine eindeutigen Grenzziehungen geben (Zugehörigkeit zu mehreren Ethnien möglich).]
  • „Biogeografische Herkunft“ ist kein äußerlich sichtbares Merkmal. Obwohl es populationsweite Korrelationen etwa mit Haut- und Haarfarbe gibt, können diese Zusammenhänge für Individuen nicht zuverlässig vorhergesagt werden – eine indirekte Vorhersage ist nur in speziellen Fällen sinnvoll.
  • „Biogeografische Herkunft“ ist keine Information, die den deutschen Meldebehörden bekannt ist, wie es von manchen PolitikerInnen behauptet wurde. „Biogeografische Herkunft“ ist nämlich nicht dasselbe wie „Geburtsort“ oder „Nationalität“.

Für viele PopulationsgenetikerInnen beschreibt das Konzept eine graduelle geografische Verteilung: Je größer die geografische Distanz zweier Populationen, desto größer deren genetischen Unterschiede. Es gibt aber zahlreiche Umstände, die dieses graduelle Verteilungsmuster in komplexer Weise durcheinander bringen. Unsere Initiative ist zu dem Ergebnis gekommen, dass die kontinentale Zuordnung mit 99,9% Wahrscheinlichkeit (wie sie in verschiedenen Gesetzesentwürfen angeben wird) nur in spezifischen Fällen möglich ist. Gerade bei Personen, deren Vorfahren aus verschiedenen Regionen stammen, ergeben die Methoden deutlich schlechtere Vorhersagewerte.

Problem Referenzdatenbanken

Um eine DNA-Spur einer Population zuzuordnen zu können, benötigen WissenschaftlerInnen Referenzdatenbanken, in denen die DNA-Daten möglichst vieler repräsentativer Individuen dieser Population gespeichert sind. Bestimmte Merkmale der DNA-Spur werden dann mit den Merkmalen der DNA-Spuren in den Referenzdatenbanken verglichen, um sie zu klassifizieren.
Diese Datenbanken sind keine polizeilichen Datenbanken, sondern laut ForensikerInnen und ErmittlerInnen öffentliche Forschungsdatenbanken. Eine Einverständniserklärung („informed consent“) der Personen, die der Aufnahme ihrer Daten in diese Datenbanken zugestimmt haben, für die entsprechende Verwendung ihres DNA-Datensatzes müsste als Standard vorausgesetzt werden können.
Der Abgleich zwischen einer DNA-Spur und einer Referenzdatenbank ist arbeitsintensiv und alles andere als trivial.

Referenzdatenbanken sind nicht immer miteinander kompatibel, da die Kriterien, mit denen nach geeigneten ProbandInnen gesucht wurde, und die verwendeten Populationsnamen unterschiedlich sein können. Zudem sind die Datenbanken nicht für alle Populationen repräsentativ . Eine Zuordnung mit einer gleichmäßig geringen Fehlerrate ist nur möglich, wenn alle Populationen weltweit gleichmäßig, umfassend und repräsentativ in Referenzdatenbanken erfasst werden. Das ist aber derzeit nicht der Fall. Der Nahe Osten ist z.B. in wichtigen Referenzdatenbanken kaum erfasst, DNA-Proben von Menschen aus dem Nahen Osten werden daher schlecht zuge¬ordnet. Um Repräsentativität herzustellen, müsste man globale DNA-Sammel-Aktionen veranstalten. Unter ethisch akzeptablen Bedingungen (Stichwort informed consent) ist das aber unmöglich.

Referenzdatenbanken beruhen oft auf dem Prinzip, dass die ProbandInnen möglichst „ortstreu“ sein sollen: also aus Familien, die stets am selben Ort gelebt und deren Mitglieder stets in der Nähe geheiratet haben. Neue DNA-Datensätze können entsprechend nur dann mit großer Wahrscheinlichkeit einer solchen Population zugeordnet werden, wenn deren Referenzdaten vorher nach genau diesen Kriterien erhoben worden sind. Kinder aus interkontinentalen Partnerschaften werden von der Technologie meistens einem der beiden Eltern zugeordnet. Dabei läßt sich selbst diese Zuordnung nur dann einigermaßen verläßlich treffen, wenn beide Herkunftsfamilien zuvor „ortstreu“ waren und die „Mischung“ daher unkompliziert ist – so zumindest die Annahme der GenetikerInnen.

Alle anderen, in deren Familiengeschichte irgendwann einmal „Ortsfremde“ hineingeraten sind oder die aus Gebieten stammen, in denen viel Zu- und Abwanderung geschieht, oder in denen viele Menschen aus unterschiedlichen Regionen friedlich miteinander leben, lassen sich aber nicht gut zuordnen – jedenfalls nicht mit 99,9% Wahrscheinlichkeit. Diese anderen sind entsprechend in den meisten Referenzdatenbanken nicht repräsentiert.

Wenn man die turbulente Geschichte der meisten Weltregionen bedenkt, kann die korrekte Bestimmung der bgH also nur in wenigen Fällen gelingen. Die Referenzdatenbanken simulieren nämlich eine recht überschaubare Lebenswelt: In der Region, aus die die Spur stammt, sollte es nie zu Vorkommnissen gekommen sein wie z.B. Wanderungen, Kulturkontakte, Mobilität, Handel, überregionale Familien, Kriege, Zwangsumsiedlungen, Massenvergewaltigungen, Deportationen, Genozide etc. All das könnte eine Zuordnung kompliziert, unzuverlässig, ja unmöglich machen.
Stammt die DNA am Tatort von einer Person, deren Familie irgendwann mal von solchen Ereignissen betroffen war, wird die DNA-Analyse die ErmittlerInnen auf die falsche Spur locken – oder mit großen Fragezeichen zurücklassen.

Natürlich kennen die ExpertInnen diese Schwierigkeiten; den PolitikerInnen und der Öffentlichkeit sind sie aber keineswegs bekannt. ExpertInnen arbeiten daran, diese Probleme zu lösen und zu populationsunabhängigen Vorhersagewahrscheinlichkeiten zu kommen, aber von gesicherten Verfahren kann derzeit nicht die Rede sein. Unsere Freiburger KollegInnen aus den Fachbereichen Genetik, Biometrie und Statistik sehen hier noch viel Klärungsbedarf, wie auch bei weiteren wissenschaftlichen Fragen. Die verhandelten Sachverhalte sind hochkomplex; die fachübergreifende Diskussion hierzu steht erst am Anfang.

Zwei Definitionen von bgH – die zweite Definition führt als Referenz die Publikation an, aus der die erste Definition stammt:

  • „Biogeographic ancestry [means] a person‘s origin is associated with the geographical location(s) of presumed ancestors inferred by comparison with contemporary populations living in these locations.“ (Royal et al 2010)
  • „Biogeographical ancestry (BGA) […] is defined as proportions of the individual genome inherited from each of the continental groups that contribute to the formation of the admixed population (Royal et al 2010).“ (Magalhaes de Silva et al 2018)

Mehr dazu in einem Debattenbeitrag im Tagesspiegel:
Die Bestimmung der „Biogeographischen Herkunft“ – eine voraussetzungsreiche Methode
Tagesspiegel Causa, 21.09.2017, Lipphardt V.

 


Ausführlichere Informationen und die entsprechenden wissenschaftlichen Belege finden Sie auf dieser Seite in unseren Publikationen und Literatur von anderen ExpertInnen zum Thema.