Statement von WIE-DNA zu Erweiterten DNA-Analysen im Gesetzesentwurf für die Modernisierung des Strafverfahrens, 08.10.2019
(Wir behandeln in unserem Statement nur DNA-Technologien für die Vorhersage von Haar-, Haut- und Augenfarbe sowie Biogeografischer Herkunft, nicht jedoch Technologien für die Vorhersage des Alters einer unbekannten Person.)
Der vorliegende Gesetzesentwurf ist unserer Ansicht nach nicht ausreichend, um einen verantwortungsvollen und nutzbringenden Einsatz erweiterter DNA-Analysen zu gewährleisten.
Wie und unter welchen Bedingungen wäre ein verantwortungsbewusster und nutzbringender Einsatz zu gestalten? Die wichtigsten Bedingungen, die bei jedem geplanten Einsatz der Erweiterten DNA-Analysen maßgeblich sein sollten, sind: (A) wissenschaftlich und operationell höchste Qualität, (B) gesellschaftliche Sensibilität und (C) verantwortungsbewusste Kommunikation
1. Folgende Maßnahmen schlagen wir für die Einführung der Technologien vor:
- Gesetzesentwurf unter Einbeziehung aller relevanten Expertisen und Perspektiven ausarbeiten (einschließlich MinderheitenvertreterInnen und internationaler ExpertInnen).
- Straftatenkatalog auf Schwerverbrechen einengen (ohne Einbrüche)
- Richtervorbehalt in den Gesetzesentwurf aufnehmen
- Beratungskommission für cold cases und aktuelle Einzelfälle einrichten, interdisziplinär besetzt (vgl. WIE-DNA-Statement vom 02.06.2017; siehe auch: Roewer/Ziegler 2019)
- Nationale DNA-Ethikkommission einrichten, interdisziplinär besetzt (für forensische, medizinische und kommerzielle DNA-Anwendungen)
- Neue wissenschaftliche Mindeststandards für die Anwendung der Technologien festlegen
- Durchführung der Analysen in die Hände universitärer ExpertInnen (UFG) legen; wissenschaftliche Transparenz bezüglich der Referenzdaten herstellen; Standards für Laborberichte festlegen
- Fallbezogene Kommunikationsberatung der Ermittlungsteams einführen
- Gezielte Ausbildung, Sensibilisierung, Anti-Bias-Training für AnwenderInnen einführen
- Interdisziplinäre Forschungsprojekte fördern, z.B. zur Effektivität von DNA-Analysen in der Polizeiarbeit und im Justizsystem
- Datenschutzressourcen für DNA-Daten bereitstellen
- DNA-Datenbanken regelmäßig unabhängig überprüfen (auch in LKÄ)
- Über bisherige Erfahrungen mit den Technologien transparent öffentlich berichten, sowohl erfolgreiche als auch enttäuschende oder irreführende Anwendungsbeispiele geben
- Öffentliche Darstellung der Technologien korrigieren, wissenschaftliche und einsatzstrategische Grenzen aufzeigen, Erwartungen dämpfen
2. Drei wichtige Bedingungen müssen erfüllt sein:
A. Wissenschaftliche Qualität und einsatzbezogene Nützlichkeit: Ein verantwortungsbewusster Einsatz der Methoden erfordert, dass allen Beteiligten die validierten Einsatzbereiche, Grenzen und Fallstricke der Technologien gut bekannt sind. Dafür sind derzeit noch immer verstärkte Forschungsanstrengungen notwendig. Hinsichtlich der technischen Reife und der Anwendbarkeit sind noch zahlreiche Fragen offen; derzeit wird zu beidem noch intensiv geforscht und wissenschaftlich diskutiert (siehe Anhang 1). In vielen Fällen wird die Technologie keine verwertbaren Ergebnisse liefern können, etwa weil „Mischwerte“ zu unsicher sind und keine Fokussierung auf eine Gruppe erlauben. Ausreichend hohe Vorhersagewahrscheinlichkeiten lassen sich nur für sehr wenige phänotypische Merkmalsausprägungen erzielen; alle anderen Vorhersagewahrscheinlichkeiten lassen sich nicht überall gleich gut erzielen, sondern sind von der Zusammensetzung der jeweiligen Bevölkerung vor Ort abhängig. Ergibt die Analyse Merkmalsausprägungen, die häufig vorkommen, ergibt sich keine nützliche Fokussierung. Die Validierung müsste demnach kontextspezifisch durchgeführt werden. Die Technologien sind also noch nicht generell einsatzreif. (siehe Anhang 1: Validität)
B. Gesellschaftliche Sensibilität: Ein verantwortungsbewusster Einsatz der Methoden erfordert hohe gesellschaftliche Sensibilität auf Seiten der AnwenderInnen. Derzeit sind die gesellschaftlichen Risiken, vor allem das der Diskriminierung, auch im BMJ noch nicht ausreichend bekannt.(1) Diese betreffen Ängste und Rechte der BürgerInnen (siehe Anhang 2), insbesondere jedoch die Gefahr der Diskriminierung. Die Forensischen Genetiker Manfred Kayser und Peter de Knijf schrieben 2011, zu den regulatorischen Fragen, die man bedenken müsse, zähle „non-discrimination (particularly salient as FDP is most useful for tracing suspects from minority groups)“.(2) Gesellschaftliche Diskriminierung ist nicht nur in Form von „rassistischer Hetze“ zu befürchten; auch andere Formen von Diskriminierung können bei der FDP-geleiteten Fokussierung auf Gruppen auftreten. Zu vermeiden ist, dass die Analysen zu genetischem Racial Profiling führen. Dieses Risiko – wie auch andere Risiken – werden von internationalen ExpertInnen sehr ernst genommen. Weitere Untersuchungen sind notwendig; ansonsten würden Fehlinterpretationen, Ermittlungsfehler und sogar gesellschaftliche Fehlentwicklungen (z.B. (Stigmatisierung, Vertrauensverlust in die Arbeit der Ermittlungsbehörden, vermindertes Sicherheitsgefühl) in Kauf genommen. (siehe Anhang 2: Nützlichkeit und Sensibilität)
C. Verantwortungsbewusste Kommunikation: Ein verantwortungsvoller Einsatz der Methoden erfordert eine gut durchdachte Kommunikation aller Beteiligten mit und in der Öffentlichkeit, mit AnwenderInnen und mit den voraussichtlich am stärksten betroffenen gesellschaftlichen Gruppen. Eine Technologie, die besonders nutzbringend bei der Strafverfolgung von Tätern aus gesellschaftlichen Minderheiten, aber kaum nutzbringend bei der Strafverfolgung von Tätern aus der Mehrheitsgesellschaft ist, erfordert besondere Sorgfalt bei der Planung von anschließenden Fahndungsmaßnahmen. Die notwendige Sorgfalt betrifft sowohl die Kommunikation zwischen BefürworterInnen und der Öffentlichkeit als auch zwischen ExpertInnen und AnwenderInnen. Haben BürgerInnen zu hoch gesteckte Erwartungen an das Potential der Technologien, die nicht erfüllt werden, kann das zu Misstrauen gegenüber den beteiligten Institutionen führen. Haben ErmittlerInnen zu hoch gesteckte Erwartungen in das Potential der Technologien und verwenden die Ergebnisse unvorsichtig, kann dies zu Fehlermittlungen führen.
3. Was wir befürworten und wogegen wir uns aussprechen
A. Wir befürworten eine umsichtige, gründliche, vielseitig beratene Reform des §81 StPO, die den wissenschaftlichen, rechtlichen, sozialen und ethischen Anforderungen Rechnung trägt. Politische Entscheidungsträger sollten sich hierbei nicht nur von einigen wenigen ForensikerInnen, JuristInnen und ErmittlerInnen beraten lassen. ExpertInnenberatung muss bei einem solch heiklen Thema vielseitig und diskursiv sein. Wir befürworten, weitere ExpertInnen zumindest aus den Bereichen Wissenschaftsforschung, Datenschutz, Statistik, Populationsgenetik, Kriminologie und Soziologie in die ExpertInnengremien mit einzubeziehen: zur kontinuierlichen Regulierung der Methodenanwendung, zur kontinuierlichen Fortentwicklung von Richtlinien und Qualitätsmanagement sowie zur Beratung besonders komplexer und öffentlich brisanter Fälle. Für die Etablierung solcher ExpertInnengremien könnte man aus den entsprechenden Erfahrungen in Großbritannien und in den Niederlanden lernen.
B. Wir befürworten die Einrichtung einer multidisziplinären Beratungskommission für die Einzelfallberatung von Ermittlungsteams. Ein Richtervorbehalt sollte grundsätzlich die Prüfung der Verhältnismäßigkeit sichern. Die wissenschaftlichen Grundlagen der Analysen, ihre Aussagekraft und ihre Einsatzgrenzen werden jedoch von vielen Ermittlungsbeteiligten und JuristInnen nicht ausreichend verstanden. Anschließend ist eine gründliche Prüfung durch ein multidisziplinäres ExpertInnengremium nötig, um zu beurteilen, ob sich ein Fall für den Einsatz der Erweiterten DNA-Analysen eignet, ob die Daten ausreichend aussagekräftig sind und ob auf dieser Grundlage das gesellschaftliche Risiko in Kauf genommen werden kann. Ermittlungsbehörden müssen die wissenschaftlichen Grenzen dieser Technologien zur Kenntnis nehmen; ihre Praxis muss den berechtigten rechtlich-ethischen Bedenken Rechnung tragen. Die Vergabe- und Durchführungspraxis muss sich an höchsten Qualitäts- und Datenschutzstandards orientieren. Dafür gilt es, auch internationale Expertise heranzuziehen. Wir empfehlen zudem eine umfangreiche Qualitätsanalyse der kommerziellen Forensik, d.h. von DNA-Analysen sowie anderen Dienstleistungen, in der Vergabepraxis von Aufträgen durch die Ermittlungsbehörden, bevor weitere forensische Dienstleistungen, wie z.B. erweitere DNA-Analysen, an private Anbieter vergeben werden. Der Preisdruck geht bereits jetzt zulasten der Forensischen Genetik an den Universitäten, wo die notwendige Grundlagenforschung stattfinden muss, die wieterhin für die erweiterten DNA-Analysen notwendig ist.
C. Wir sprechen uns gegen einen frühzeitigen, flächendeckenden und routinemäßigen Einsatz der erweiterten DNA-Analysen in polizeilichen Ermittlungen aus. Es bedarf eines eng umrissenen Straftatenkatalogs im Gesetzesentwurf. Die Erweiterten DNA-Analysen sollten nur bei Schwerverbrechen eingesetzt werden, wenn andere Ermittlungswege ausgeschöpft sind, und wenn die DNA mit sehr großer Wahrscheinlichkeit dem Täter zugeordnet werden kann (was z.B. bei Einbrüchen meist nicht der Fall ist). Sie sind außerdem nur in besonders gelagerten Fällen sinnvoll einzusetzen; über ihren Einsatz muss daher jeweils in Einzelfallentscheidungen befunden werden.
D. Wir befürworten einen sensiblen und sachlichen Umgang mit der Thematik in der Öffentlichkeit. Die einseitig positiven Stellungnahmen verschiedener Akteure haben zu überzogenen Erwartungen an die technischen Möglichkeiten in der Öffentlichkeit geführt und unrealistischen sowie populistischen Vorstellungen von Sicherheit Vorschub geleistet. Die bedenkliche Verknüpfung der Forderung nach den Technologien mit der Migrationsdebatte anhand einzelner spektakulärer Mordfälle hat zur Spaltung der Gesellschaft beigetragen. Politische Akteure und ExpertInnen müssen ihre große Verantwortung für das gesellschaftliche Klima ernst nehmen. Alle Beteiligten müssen eine realistische, transparente und möglichst situationsbezogene Darstellung der Potentiale, Grenzen und Risiken der Technologien anstreben, anstatt Einsatzmöglichkeiten abstrakt und idealisiert darzustellen. Dazu gehört auch eine realistische Einschätzung der tatsächlich erreichbaren Anwendungsqualität in einem konkreten, realen Kontext. Wenn eine solche Kommunikation ausbleibt, ergeben sich falsche oder übertriebene Vorstellungen davon, wofür die Technologie sinnvoll verwendet werden kann; Vorstellungen, die die konkrete Technologie-Anwendung prägen werden.
E. Wir befürworten, die forensische DNA-Datenerhebung und Datenspeicherung sicher, verantwortungsvoll, verhältnismäßig und ethisch legitim zu regulieren und unabhängig zu kontrollieren. Die Rechtmäßigkeit forensischer DNA-Erhebungen, DNA-Speicherungen und DNA-Analysen muss unabhängig und systematisch überprüft werden. Bisher ist dies nicht der Fall; die Datenschutzbehörden sind mit einer solchen Aufgabe überfordert.
F. Wir weisen daraufhin, dass DNA-Daten datenschutzrechtlich hochsensibel sind, u.a. auch deshalb, weil sie nicht nur über das Individuum Auskunft geben, von dem die DNA-Probe stammt. Staatliche und kommerzielle Datenbanken sind nicht sicher; zudem können eventuelle Änderungen in den Zugangsbeschränkungen zur Diskriminierung von Bürgern auf Basis ihrer genetischen Eigenschaften führen. Das Vertrauen der Bevölkerung in Bereiche, die ebenfalls genetische Daten nutzen, wie die Forschung und das Gesundheitssystem, kann in solchen Fällen Schaden nehmen.
G. Sollte die Zulassung der Analyse der „biogeografische Herkunft“ in Zukunft diskutiert werden, sehen wir die Dringlichkeit der oben genannten Maßnahmen als umso größer.
Viele Fachleute finden es unbefriedigend, die Vorhersage der BGA nicht zuzulassen. Die Vorhersage der BGA und FDP lassen sich allerdings technisch nur begrenzt voneinander trennen, wenn weiterhin die bisher üblichen Testverfahren verwendet werden: So werden einige wichtige DNA-Marker in beiden Technologien verwendet; in Ermittlungsverfahren werden phänotypische Merkmale zudem oft mit vermuteten Herkunfts-Gruppen verknüpft.
Wir sind der Ansicht, dass die Diskussion um BGA bisher der Komplexität der Herausforderungen nicht gerecht wird. Auf fachlicher Ebene sind hier noch viele Fragen offen:
Erstens: Welche Referenzpopulationen werden verwendet, oder werden diese fallspezifisch eingesetzt? Bedeutet die Vorhersage der BGA eine eindeutige kontinentale Zuordnung, eine subkontinentale Zuordnung, oder werden Mischungen anzestraler Populationen vorhergesagt? Welchen Analysestandards muss das eingesetzte Verfahren erfüllen?
Zweitens: Die Ergebnisse werden stark von dem verwendeten Kit und Merkmal-System (Y-chromosomal, mitochondrian, autosomal) abhängen, mit dem die Analyse durchgeführt wird. Entsprechend komplex ist die Interpretation der Ergebnisse. Hinsichtlich der Analysestandards müsste z.B. geklärt werden: Ist die konkrete, eingesetzte Methode gut genug, um die hohen Vorhersagewahrscheinlichkeiten des Berichts der Spurenkommission zu erfüllen? Gelten diese auch in realistischen Anwendungs-Fällen, oder nur für Spuren, die einer bestimmten Referenz-Datenbank entnommen sind? Inwiefern sind die Fehlerwahrscheinlichkeiten abhängig von der Population, in der das Verbrechen verübt wurde? In welchen Fällen soll besser kein Ergebnis übermittelt werden, anstatt mit hoher Wahrscheinlichkeit falsch zu liegen? Welche Angaben soll ein (Labor-) Bericht enthalten, und bei welchen Werten erfolgt keine Kommunikation der Resultate (z.B. bei Mischwerten)?
Drittens: Wir sind hinsichtlich des Risikos der „rassistischen Hetze“ zwar anderer Ansicht als die Justizministerin – Forensische DNA Phänotypisierung (FDP) birgt ein ebenso großes Risiko für Diskriminierung wie BGA –, aber vor allem sind die Risiken beider Technologien komplexer und nicht nur im Bereich rassistischer Ideologie zu suchen. Die Kontextabhängigkeit der Treffsicherheit von BGA-Analysen ist ausgesprochen vielschichtig und komplex und lässt sich nur im multidisziplinären Dialog klären. Gerade im Bereich subkontinentaler BGA und bei gemischter Herkunft besteht die Gefahr von Fehlinterpretationen und Fehlfokussierungen.
ANHANG 1: Validität: Wissenschaftliche Grenzen der Technologien
Es ist zu klären, wie einsatzbereit, wie exakt, wie verlässlich die Technologien derzeit tatsächlich sind. ExpertInnen aus dem Bereich der Forensischen Genetik sind sich in diesem Punkt nicht unbedingt einig.(3) Die hohen Wahrscheinlichkeitsangaben, mit denen die Gesetzesentwürfe des Jahres 2017 argumentierten, und die sich zum Teil immer noch in den Referenzen des aktuellen Gesetzesentwurfs finden, sind nach unserem Wissensstand nicht haltbar. Das Verständnis der Fehlerquellen ist eine unabdingbare Voraussetzung für einen sachgerechten und gesellschaftlich sensiblen Umgang mit den Technologien. Um als „forensisch validiert“ zu gelten, müssten die Technologien außerdem, wie etwa in UK üblich, in jedem Anwendungslabor einzeln validiert werden, bevor die Analysen dort ausgeführt werden können. Eine allgemeine Labor-Akkreditierung, wie hierzulande üblich, reicht nicht aus, um die Anwendungsqualität zu sichern.
Forensic DNA Phenotyping
Die hohen Wahrscheinlichkeitswerte, die in der Öffentlichkeit und unter BefürworterInnen zirkulieren, sind keine Vorhersagegenauigkeiten. Auch der aktuelle Gesetzesentwurf irrt in diesem wichtigen Punkt.(4) Vielmehr handelt es sich im Falle des FDP um Angaben zur sogenannten „area under the curve“ (AUC), ein Wert, der die Performance einer Methode unter Laborbedingungen beschreibt. Die für die Ermittler interessanten Vorhersagegenauigkeiten lassen sich am ehesten mit den sogenannten „positive predictive values“ und „negative predictive values“ angeben. Nur für zwei Merkmalsausprägungen der Augenfarbe liegen diese Werte bisher öffentlich vor: für blaue und braune Augen. Ein Forscherteam um Amke Caliebe hat dafür die DNA von Menschen aus acht verschiedenen europäischen Ländern untersucht. Für blaue Augen sind die Werte mit 84%-94% in allen Ländern relativ hoch (Caliebe 2017, p. 207). Für braune Augen ist der „positive predictive value“ allerdings nicht in allen Ländern gleich hoch: in Norwegen erreichte die Bestimmung der braunen Augenfarbe lediglich eine Genauigkeit von 65%, in UK 67%, in Holland 68%, in Estland 69%; in Italien und Frankreich mittlere 80er Werte; und nur in Griechenland und Spanien über 90%. In Ländern, in denen braune Augen eher selten sind, ist die Vorhersage also ungenauer. Für dunkle bzw. helle Haar- und Hautfarbe dürften diese Werte für die meisten Länder deutlich niedriger ausfallen. Leider werden sie in der einschlägigen Literatur nicht publiziert, obwohl sie aus den vorhandenen Daten abzuleiten wären. Sämtliche Mischfarben werden ohnehin, da sind sich alle ExpertInnen einig, mit noch deutlich geringerer Vorhersagegenauigkeit vorhergesagt.
Das einzige Merkmal, das sich also in verschiedenen europäischen Ländern mit hoher Wahrscheinlichkeit präzise voraussagen lässt, ist blaue Augenfarbe. Die AutorInnen einer auf dieses Problem bezugnehmenden Publikation halten entsprechend fest, dass die Technologien sich noch nicht für den Einsatz in Ermittlungen eignen:
„[…] since the etiological understanding of FDP-relevant appearance phenotypes is still incomplete, so are the prediction models used – and the corresponding predictive values vary to a certain degree. In consequence, these measures have to be determined empirically for each appearance phenotype, prediction model and target population of interest before they can be applied sensibly in criminal casework.“(5)
Referenzdatenbanken und ihrer Repräsentativität
Wie komplex diese Aufgabe ist, zeigt ein Blick in den Bereich der wissenschaftlichen Vorarbeit für diese Technologien. Die DNA-Daten, an denen die Methoden im Labor entwickelt, trainiert und getestet werden, sind nicht nach dem Zufallsprinzip erhoben, sondern mit einer Samplingstrategie: DNA-Daten einer Person werden nur dann in ein Datenset aufgenommen, wenn ihre Großeltern etwa aus einem bestimmten Land oder einer bestimmten Region stammen. Die Daten für „Norwegen“ sollten also von Angehörigen alteingesessener norwegischer Familien kommen, die in den letzten drei Generationen keine Migrationserfahrung über die heutigen Landesgrenzen hinweg gemacht haben, und in die keine Person mit „nichtnorwegischen“ Vorfahren eingeheiratet hat. Dasselbe gilt für die Daten aus Griechenland, Italien, Großbritannien usw. Diese Bedingungen erfüllt nur ein kleiner Teil aller europäischen Familien. Die wechselhafte Geschichte vieler europäischer Länder hat durch Kolonialismus, Umsiedelungen, Industrialisierung, Nahrungsknappheit, Nationalstaatenbildung und Kriege ein reiches Spektrum zwischen erzwungenen und freiwilligen Mobilitätserfahrungen hervorgebracht.
Deshalb machen Familien, deren Mitglieder alle aus einem einzigen Land oder einer einzigen Bevölkerungsgruppe kommen, nur einen Teil der Gesamtbevölkerung aus. Die erzielten statistischen Werte sind jedoch lediglich für diesen Teil der Bevölkerung zutreffend. Bei komplexer zusammengesetzten Gesellschaften – z.B. städtische oder postkoloniale – treffen die Methoden auf ihre Grenzen und produzieren oft falsche Vorhersagen. Hier fehlt noch das wissenschaftliche Verständnis dafür, wie es zu diesen falschen Vorhersagen kommt, und wie man diesen vorbeugen kann. Referenzdaten, die die gesellschaftliche Realität annähernd gut abbilden, wären ebenfalls ein wichtiger Schritt in Richtung einer zuverlässigen Anwendbarkeit.
ANHANG 2: Nützlichkeit und Sensibilität
Die Technologien können nur in wenigen, speziell gelagerten Fällen sinnvoll und weiterführend zum Einsatz kommen. Dabei hängt es wesentlich von der gesellschaftlichen Sensibilität der beteiligten GenetikerInnen und ErmittlerInnen und von den gewählten Anschlussmaßnahmen ab, ob ein diskriminierender oder stigmatisierender Effekt vermieden wird. Generell befürworten wir daher einen umsichtigen, mehrstufigen Beratungsprozess und halten es für sinnvoll, die Technologien nur dann einzusetzen, wenn sie eine konkrete Frage möglichst klar beantworten helfen. Für einen flächendeckenden, first-line, routinehaften Einsatz taugen sie unseres Erachtens nicht; die zu erwartenden gesellschaftlichen Effekte wären zu risikobehaftet.
Bisher mangelt es etwa an Sensibilität für die Ängste vieler BürgerInnen rund um genetische Informationen. Der DNA und genetischen Analysenverfahren messen viele BürgerInnen besondere Bedeutung bei, da das Genom als sehr privat sowie als verknüpft mit Persönlichkeitsmerkmalen und Identität gesehen wird. Aber auch Rechte, wie das Recht auf Nichtwissen (v.a. von unschuldigen Personen, die nur aufgrund der DNA-Analyse in den Fokus geraten), Datenschutz oder internationale und nationale Antidiskriminierungsrechte werden von der Anwendung der Technologien berührt und müssen als relevante Probleme einbezogen werden. Anders als die genetische Identitätsfeststellung zielen die Erweiterten DNA-Analysemethoden außerdem auf ganze Bevölkerungsgruppen, weshalb hier andere Bedenken und andere Schutzbedürfnisse zum Tragen kommen.
Diskriminierungsgefahr
Fasst man zusammen, in welchen Fällen die Technologien sichere Ergebnisse erzielen können und in welchen nicht, ergibt sich folgendes Bild: Blaue Augen lassen sich in vielen europäischen Ländern mit sehr hoher Genauigkeit vorhersagen, grüne, graue oder grüngraubraune Augen aber nicht. Braune Augen lassen sich in manchen Ländern mit relativ hoher Genauigkeit vorhersagen, in anderen nicht. Für alle anderen Merkmale haben wir nur Anhaltspunkte, weil die positive/negative predictive values nicht vorliegen.
Geht man optimistisch davon aus, dass dunkle Haare und dunkle Haut sehr gut vorhersagbar wären und ebenso helle Haut und helle Haare, dann lautet die nächste Frage: Welche dieser Merkmale und welche Merkmalskombinationen sind nützlich für Ermittlungen? Wann erlaubt ein Analyse-Ergebnis eine Fokussierung?
Gemischte Werte sind in allen Methoden unsichere Werte – sie sind also von vornherein nicht verlässlich. Je nachdem, wie viele Menschen in der Nähe eines Tatortes gemischte Werte aufweisen – etwa graue Augen, mittelbraune Haare, heller bis leicht gebräunter Teint – wäre der von vornherein erwartbare Nutzen der Anwendung bei einem entsprechenden Ergebnis also nicht unbedingt gegeben. Am höchsten wäre er, wenn diese Gruppe sehr klein wäre und die Bevölkerung nur aus zwei gut unterscheidbaren Gruppen bestünde: sehr hell pigmentierten und sehr dunkel pigmentierten Menschen, denn dann wäre das Unterscheidungspotential besonders groß. Niedrig wäre der Nutzen, wenn die Mehrheit der vor Ort lebenden Bevölkerung diese Merkmalskombination aufweist, denn dann lässt sich keine sinnvolle Fokussierung ableiten. Die Analysen liefern nur dann einen brauchbaren Ansatz, wenn sie auf ein vor Ort relativ seltenes Merkmal hinweisen: In Deutschland z.B. dunkle Haut; sehr dunkle Haare und Augen; oder ausschließlich asiatische oder afrikanische Vorfahren. Nützlich sind die Ergebnisse also nur, wenn sie erstens sicher und zweitens selten sind. Damit geraten vor allem Minderheiten in den Blick.
Wenn die Methoden wirklich so effektiv eingesetzt werden können, wie die BefürworterInnen meinen, sollte man also eine erhöhte Aufklärungsrate in diesen Minderheiten erwarten. Die Aufklärungsrate in der Mehrheitsbevölkerung wird sich hingegen überhaupt nicht verändern, weil Analyse-Ergebnisse wegen des mangelnden Fokussierungsgewinns regelmäßig verworfen würden. Dies könnte u.a. einen verzerrenden Einfluss auf die Kriminalstatistik haben. Während sich Minderheiten einem wiederholten, erhöhten Ermittlungsdruck allein aufgrund von äußerlichen Merkmalen ausgesetzt sähen, wird sich der Ermittlungsdruck auf die Mehrheitsbevölkerung nicht erhöhen. Für Täter, die der Mehrheitsbevölkerung angehören, ergibt sich daher auch kein Abschreckungseffekt.
Es sei ausdrücklich betont: Dieser Diskriminierungseffekt ergibt sich aus der begrenzten Nützlichkeit spezifischer Analyse-Ergebnisse, nicht etwa aus rassistischen oder stereotypen Einstellungen der ErmittlerInnen. Auch wenn alle ErmittlerInnen von vornherein anti-rassistisch eingestellt sind und zusätzlich Anti-Bias-Trainings durchlaufen, wird die zu erwartende Anwendung der Technologien diesen Effekt haben. Es geht hier nicht darum, die ErmittlerInnen als rassistisch oder diskriminierend zu diskreditieren, sondern die systematischen Schwächen und Probleme einer Technologie im gesellschaftlichen Kontext zu erkennen.
Mittlere oder gemischte Werte sind mit allen Methoden nur unsicher zu bestimmen; sie sind also von vornherein nicht verlässlich. Je nachdem, wie viele Menschen in der Nähe eines Tatortes mittlere oder gemischte Werte aufweisen – etwa graue Augen, mittelbraune Haare, heller bis leicht gebräunter Teint – wäre der von vornherein erwartbare Nutzen der Anwendung bei einem solchen Ergebnis also nicht unbedingt gegeben. Am höchsten wäre die Zuverlässigkeit, wenn diese Gruppe sehr klein wäre und die Bevölkerung nur aus zwei gut unterscheidbaren Gruppen bestünde: etwa sehr hell pigmentierten und sehr dunkel pigmentierten Menschen, denn dann wäre das Unterscheidungspotential besonders groß.
Selbst wenn ein eindeutigen Analyse-Ergebnis gewährleistet wäre, könnten die Methoden also nur dann den Ermittlungen helfen, wenn sie auf ein vor Ort relativ seltenes Merkmal hinweisen: In Deutschland z.B. dunkle Haut; sehr dunkle Haare und Augen; oder ausschließlich asiatische oder afrikanische Vorfahren. Denn nur dann lässt sich der Kreis der Verdächtigen deutlich einschränken. Gerade dann ist aber besonders hohe gesellschaftliche Sensibilität gefragt, weil es sich um Minderheiten handelt, die bereits jetzt mit Stigmatisierung und Diskriminierung konfrontiert sind.
Niedrig wäre der Nutzen, wenn die Mehrheit der vor Ort lebenden Bevölkerung diese Merkmalskombination aufweist, denn dann lässt sich keine sinnvolle Fokussierung ableiten. Deutet die Analyse z.B. auf helle Haut, braune Augen und mittelblondes Haar hin, trifft dies in einer deutschen Stadt auf so viele Menschen zu, dass sich der Kreis der Verdächtigen nicht ausreichend einschränken lässt, um z.B. eine DNA-Reihenuntersuchung zu ermöglichen. Nützlich sind die Ergebnisse also nur, wenn sie erstens zuverlässig sind und zweitens auf ein seltenes Merkmal hinweisen. Damit geraten vor allem Minderheiten in den Blick.
ANHANG 3: FAQs – Offene Fragen
Kann der Datenschutz zum Problem werden?
Generell stellen DNA-Daten und DNA-Datenbanken – auch in staatlichen Kontexten – datenschutzrechtliche Herausforderungen dar, mit denen die Datenschutzbehörden in Deutschland überfordert sind, weil ihnen die spezifische Expertise fehlt. Beim FDP muss darauf geachtet werden, dass genetische Marker, die auch Auskunft über Krankheitsdispositionen geben können, mit großer Vorsicht behandelt werden. Entweder müssten sie aus der Analyse ausgeschlossen werden; oder zwischen dem analysierenden Labor und den Ermittlungsteams dürften keine Informationen über die Marker kommuniziert werden, sondern nur die vorhergesagte Haar-, Haut- oder Augenfarbe. Eine solchermaßen klare Trennung zwischen analysierendem Labor und ermittelndem Team wäre schwierig aufrechtzuerhalten, falls die Ermittlungsbehörden die DNA-Analysen selbst durchführen und nicht an ein universitäres Labor vergeben.
BGA-Analysen wären datenschutzrechtlich heikel, denn es handelt sich bei BGA nicht um äußerlich sichtbare Merkmale. Zwar lassen ganz spezifische BGA-Ergebnisse einen indirekten Rückschluss auf äußere Merkmale zu, aber in vielen Kontexten ist die geografische Herkunft eines Menschen nicht äußerlich erkennbar. In Europa (bzw. auf dem eurasischen Kontinent) gilt dies insbesondere für die Bestimmung sub- und zwischenkontinentaler BGAs.
Ausführlich zur Datenschutzproblematik genetischer Daten: Weichert (2017); Weichert (2018); Momsen/Weichert (2018)
Welche Fälle sind geeignet für den Einsatz der Technologien?
Nicht jeder Fall eignet sich für einen Einsatz der Technologien; tatsächlich schränken schon ermittlungstaktische Gesichtspunkte die Anzahl der potentiellen Anwendungsfälle stark ein:
- Die DNA-Spur sollte eindeutig dem Täter oder der Täterin zuzuordnen sein. Dies ist bei Gewaltverbrechen öfters der Fall als etwa bei Wohnungseinbrüchen (DNA-Spuren etwa am äußeren Fensterkreuz können auch vom Reinigungspersonal stammen). Bei Mischspuren verschiedener Personen werden zusätzliche Probleme in der Zuordnung auftreten.
- Die Bevölkerung sollte hinsichtlich des Analyse-Ergebnisses deutlich in mindestens zwei Gruppen zu unterscheiden sein: z.B. zwei Gruppen, deren BGAs sehr weit voneinander entfernt liegen, oder die entweder hell oder dunkel pigmentierte Haut haben.
- In Regionen, in denen zwischen solchen Gruppen Integration stattfindet, wie z.B. in Städten, ist die Methode unzuverlässig.
- Das Analyse-Ergebnis sollte nicht auf „Mischwerte“ bei der Pigmentierung oder auf eine „gemischte“ BGA hinweisen, denn dann ist es vom wissenschaftlichen Standpunkt her wenig verlässlich. Auch von der operationellen Seite her werden solche Aussagen wenig hilfreich sein können.
- Für die Interpretation und Weiterverwendung von anspruchsvollen, komplizierten Analyse-Ergebnissen bedarf es spezieller Expertise, also erhöhte Personalressourcen.
Innerhalb einzelner Fallkategorien sind keine großen Durchbrüche zu erwarten; die meisten Sexualmorde etwa sind Beziehungstaten, die relativ zügig mit herkömmlichen Ermittlungsmethoden aufgeklärt werden können. Für ‚cold cases’ scheint der Einsatz bei Schwerverbrechen, bei denen keinerlei brauchbarer Ermittlungsansatz gefunden wurde, und bei denen kein Zeitdruck den vorsichtigen und verantwortungsvollen Umgang beeinträchtigt, gerechtfertigt und sinnvoll.
All das schränkt die Anzahl der Anwendungsfälle, in denen ausreichend hohe wissenschaftlich-technische Qualität und gleichzeitig gesellschaftliche Sensibilität erreicht werden können, stark ein.
Ausstattungsfragen: Wer soll die Technologien anwenden, und wie oft?
Im Gesetzesentwurf wird eine technische Ausrüstung beschrieben, die vermuten lässt, das es nicht um Einzelfallanwendungen geht, sondern eher um Routine-Anwendungen, und zwar durchgeführt an den Landeskriminalämtern, für die Geräte gefordert werden. Höhere Personalkosten sind nicht vorgesehen, auch keine Investitionen in Training, Forschung und universitäre Forensische Genetik. Wer in einem solchen Szenario die Anwendungsqualität garantieren soll, bleibt unklar.
Können die Technologien mehr Sicherheit garantieren?
Das Potential der Technologien, potentielle Opfer zu schützen, bleibt auf jene Fälle beschränkt, in denen ein Serientäter von weiteren Gewalttaten abgehalten werden kann. Ohne Zweifel wecken diese Fälle starkes öffentliches Interesse; sie mögen das Sicherheitsgefühl massiv beeinträchtigen, aber sie sind sehr selten. Bei Wohnungseinbrüchen, die ebenfalls das Sicherheitsgefühl massiv beeinträchtigen, wird sich nur selten eine eindeutig dem Täter zuzuordnende DNA-Spur auffinden lassen. Die Technologien werden also keinen flächendeckenden Sicherheitseffekt haben. (siehe dazu auch: Anhang 2: Diskriminierungseffekt)
Belegen die bisher bekannten Erfolge, wie valide und nützlich die Technologien sind?
Dem legalen Einsatz der Technologien in anderen Ländern werden nur wenige Erfolge zugeschrieben: Experten verweisen öffentlich auf ca. 5-6 Fälle in den letzten 20 Jahren, in denen BGA-Analysen (nicht FDP) als erfolgbringend dargestellt werden. Zu den Einsätzen insgesamt gibt es keine Statistik, keine Begleitforschung, keine retrospektiven Fallanalysen: Es bleibt also selbst in den Ländern, in denen der Einsatz rechtlich möglich ist, unbekannt, wie oft die DNA-Analysen eben keinen brauchbaren Hinweis lieferten, sondern die Ermittlungen fehlgeleitet haben, oder in wie vielen Fällen und mit welchen Methoden soziale Gruppen in den Fokus genommen wurden. Die wenigen Erfolgsgeschichten stechen deshalb umso stärker hervor. Wären sämtliche Einsatzgeschichten, auch die ohne nutzbringende Anwendung, mit derselben Offenheit erzählt worden, hätte man in der Öffentlichkeit kaum so wirksam für die Technologien werben können.
Können Minderheiten mithilfe der Technologien entlastet werden?
ErmittlerInnen diskutieren und wägen im Laufe von Ermittlungen häufig ab, ob ein Verdacht tatsächlich konkret begründet ist oder ob es sich eher um eine Verdächtigung handelt, die z.B. auf allgemeinen Erfahrungswerten basiert, oder die aus der Bevölkerung kommt und eher auf auf Voreingenommenheiten fußt. Die Grenzen sind nicht immer klar zu ziehen. Der Einsatz der Technologien, um eine Minderheit von einem öffentlich geäußerten Verdacht zu entlasten, kann diese wichtigen Überlegungen nicht ersetzen. Zunächst ist also zu fragen, woher der Verdacht kommt und ob er stichhaltig ist. Ist dies nicht der Fall, ergibt sich die Frage, ob es verhältnismäßig ist, eine aufwendige und komplexe Technologie einzusetzen, um eine Minderheit von einem unbegründeten Verdacht zu entlasten. Unserer Ansicht nach sollten die Technologien nur angewendet werden, wenn es einen begründeten Verdacht gibt und sich aus dem Technologie-Einsatz eine realistische Ermittlungshilfe ergeben würde.
Zudem ist die Entlastung von Minderheiten nur möglich, wenn die ErmittlerInnen sich der Gefahr der Fehlinterpretation bewusst sind. Im Falle des Heilbronner Phantoms führte eine BGA-Analyse nicht zur Entlastung der in den Fokus geratenen Minderheit, obwohl das Analyse-Ergebnis nicht auf diese Gruppe hinwies (Lipphardt 2019).
Bevor der §81 StPO geändert wird, sind zahlreiche offene Fragen zu klären:
- In welchen Fallkonstellationen wäre ein Einsatz der Erweiterten DNA-Analysen sinnvoll?
- Welche Anforderungen ergeben sich daraus? Welche Sachkompetenz ist dafür angemessen?
- Welche Fehlerquellen gilt es zu berücksichtigen?
- Wer wird die DNA-Analysen durchführen, interpretieren, anwenden; wie werden die AnwenderInnen geschult und auf ihre anspruchsvolle Aufgabe vorbereitet?
- Welche unabhängige Institution wird die wichtige Aufgabe der Kontrolle und Regulierung polizeilicher DNA- Datenerhebung und -nutzung in Zukunft übernehmen?
- Wer bringt die notwendigen molekulargenetischen, statistischen und rechtssoziologischen Hintergrundkenntnisse ins Ermittlungsverfahren ein: ErmittlerInnen, RichterInnen, StaatsanwältInnen, VerteidigerInnen, oder bedarf es einer zusätzlichen Instanz?
- Welche checks and balances, welche Schulungen gibt es bereits und welche neuen müssten mit einer Gesetzesänderung eingeführt werden, um sicherzustellen, dass Voreingenommenheit gegenüber Minderheiten nicht zu einseitigen Interpretationen und vorschnellen Festlegungen führen?
- Welche Kosten entstehen durch die Sachverständigen-Gutachten, die mit der gebotenen Sachkompetenz zu erstellen sind? Welche Aufwendungen entstehen jenseits der Kosten für die technische Ausstattung – etwa für Schulungen und für die notwendigen Regulierungsinstitutionen? Wie können Ermittlungsmaßnahmen, die auf Erweiterte DNA-Analysen folgen – insbesondere DNA- Reihenuntersuchungen und Öffentlichkeitsfahndungen –, so gestaltet werden, dass dadurch Minderheiten nicht unter Generalverdacht geraten oder stigmatisiert werden?
- Welche Bedenken haben in Deutschland lebende Menschen bezüglich der Speicherung ihrer DNA-Daten (in Forschungsdatenbanken, im Gesundheitswesen, im Polizeiwesen); und wie kann diesen Bedenken im Rahmen rechtlicher Regulierungen Rechnung getragen werden?
- Wie kann einem möglichen Missbrauch der DNA-Daten (-banken) vorgebeugt werden?
Literatur
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Fußnoten
(1) taz, 12.09.2019, Justizministerin zur DNA-Strafverfolgung: „Das ist keine Stigmatisierung!“
(2) Kayser/Knijff (2011) zählen zudem weitere ethische Risiken auf: „[…] privacy and data protection, the ‘right not to know’, and preventing ‘slippery slopes’.“ Ihre Einschätzung dazu lautet: „These are serious issues, but their particular relevance to FDP should not be overestimated“ (Box 2, S. 183). Die Autoren verweisen auf Ossorio (2006).
(3) Ausführlich zu den divergierenden Ansichten siehe Lipphardt (2018). Der Text diskutiert außerdem die Beteiligung Forensischer GenetikerInnen am öffentlichen Diskurs sowie unterschiedliche Vorstellungen von verantwortungsvollem Handeln in der Politikberatung.
(4) „Die genannten äußerlich sichtbaren Körpermerkmale können nach aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen durch Untersuchungen genetischer Informationen mit hinreichender Vorhersagegenauigkeit bestimmt werden“; Referentenentwurf (2019), S. 27. Der Gesetzesentwurf verweist für diese Information auf eine Stellungnahme der Spurenkommission von 2016, deren Informationen aber inzwischen auch von Peter Schneider, dem Vorsitzenden der Spurenkommission, mehrfach relativiert wurden.
(5) Kayser (2017), ohne Seitenangabe; siehe auch folgende Reaktion: Buchanan et al (2017).